Es gibt kaum eine Ecke in Berlin, die vom Erbe der Nazis unberührt geblieben ist – sei es durch Hitlers und Speers architektonische Fantasie, eine neue Welthauptstadt namens Germania zu errichten, oder als natürliche Folge der Verwüstung der Stadt am Ende des Krieges. Während es in Berlin viele offensichtliche architektonische Überbleibsel des Dritten Reichs gibt – wie das Reichsluftfahrtministerium (heute das Finanzministerium), die italienische und die japanische Botschaft, das Olympiastadion und den ehemaligen Flughafen Tempelhof -, nimmt man die “zivilen” Bauten, die unter dem faschistischen Regime entworfen und gebaut wurden, kaum wahr.
Bei allem Prunk und Bombast gelang es den Nationalsozialisten nur wenige Großsiedlungsprojekte in Berlin zu verwirklichen – eines davon ist die “Siedlung Grazer Damm” in Schöneberg, die von ihrem Namen bis zu ihrer Gestaltung von faschistischer Symbolik durchdrungen ist.
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Die Nazis und ihre Verachtung für moderne Architektur
Schon vor seiner Machtergreifung hatte Adolf Hitler in seinem Buch Mein Kampf beklagt, dass “die modernen Städte, anders als in der Antike, keine Wahrzeichen, “Denkmäler des Stolzes” mehr hätten, und dass der Staat seine Präsenz in der Öffentlichkeit durch seine Bauten erzwingen müsse”. Allein an dieser Aussage kann man ermessen, was Hitler 8 Jahre später erträumen sollte.
Trotz seiner Lust an der Pracht hatten Hitler und die Nazis eigentlich keinerlei Politik in Bezug auf Wohnungsbau und Architektur – es war ein so unwichtiges Thema, dass die Faschisten bis zu ihrer Machtübernahme 1933 nur in ihrem Hass auf das “neue bauen” übereinstimmten, das zwischen den 1910er und 1930er Jahren begonnen hatte, in ganz Deutschland seine Spuren zu hinterlassen.

Das “Neue Bauen” – auch bekannt als Neue Sachlichkeit – nahm in Deutschland seinen Anfang (und ging schließlich in die Bauhaus-Bewegung über) mit dem Ziel, einen völlig neuen Gebäudetypus mit neuartigen Materialien und einfachen, aber funktionalen Innenräumen zu entwickeln. Das übergeordnete Ziel war es, einen Wohnraum zu schaffen, bei dem die Form der Funktion folgt, und gleichzeitig die soziale Verantwortung dieser Bauten anzusprechen, indem den Bewohnern viel Sonne, Luft und Licht geboten wird – im Gegensatz zu den engen und dunklen “Mietskasernen”, in denen die Arbeiter normalerweise wohnten. Es sollte nicht überraschen, dass diese Projekte hauptsächlich von Gemeinden mit einer sozialdemokratischen Mehrheit vorangetrieben wurden.
Wie zu jedem Ying gibt es auch ein Yang – und das Gegenstück zum “Neuen Bauen” war der “Heimatschutzstil“, ein architektonischer Ableger der “Heimatschutzbewegung”. Die Heimatschutzbewegung entstand in den frühen 1900er Jahren im Bildungsbürgertum, das eine zu schnelle Modernisierung und Entwicklung der Gesellschaft und den Verlust der deutschen Kultur befürchtete. Diese Bewegung war in einem tiefen Glauben an Konservatismus, Nationalismus und deutsches Heidentum (neben vielen anderen Dingen) verwurzelt – was sich als sehr fruchtbarer Boden für die Nazis erweisen sollte.

Ziel des Heimatschutzstils war die Entwicklung des Historismus mit traditionellen, regionaltypischen Bauformen unter Verwendung lokaler Materialien (z.B. Ziegel in Norddeutschland, Holz in den Alpengebieten). Neu errichtete Gebäude sollten sich nahtlos in das ältere Stadtbild einfügen und auf ornamentale Attribute verzichten, die ältere Baustile getreu imitieren – d.h. man wollte Häuser und Gebäude bauen, die die “gute alte Zeit” widerspiegeln. Beispiele für Heimatschutzstil-Architektur gibt es in Berlin reichlich, man braucht nur nach Zehlendorf und Krumme Lanke zu schauen. Auch weiter nördlich von Berlin, in Oranienburg, wo die SS-Baracken des Konzentrationslagers Sachsenhausen im Heimatschutzstil errichtet wurden, gibt es zahlreiche Beispiele.
Von mittelalterlich zu monumental, von modern zu antiquiert
Die Nazis bevorzugten zwar eindeutig den urigen und altmodischen Heimatschutzstil, aber selbst sie erkannten, dass eine Baupolitik, die sich auf niedrige, ländliche Bauten konzentrierte, für ihre neue Hauptstadt nicht ausreichen würde – vor allem, weil die Nachfrage nach Wohnungen in die Höhe schoss. Generalbauinspektor Speer und Hitler beschlossen, dass der “heroische Stil” dem Zweck am ehesten gerecht werden würde.
Der heroische Stil – oft auch als “nationalsolzialistischer Stil” bezeichnet – definierte sich durch seine monumentalen, schweren, kubischen Gebäude in einem eher reduzierten neoklassizistischen Stil. Obwohl er in den Jahrzehnten zuvor ein bekannter Architekturstil war, wurde er vor allem mit der nationalsozialistischen Bewegung assoziiert (und befleckt), die sein zentrales Merkmal ausnutzte, um alles andere im Vergleich klein und bedeutungslos erscheinen zu lassen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung Berlins rasant zu, und in den 1920er Jahren war die Stadt flächenmäßig die zweitgrößte und bevölkerungsmäßig die drittgrößte Stadt der Erde. Der Aufstieg der Weimarer Republik brachte monumentale sozialpolitische Veränderungen mit sich, die darauf abzielten, die sozialen Ungleichheiten des Kaiserreichs zu korrigieren. In Artikel 155 der neuen Verfassung hieß es:
“Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird vom Staat so überwacht, dass Missbräuchen vorgebeugt wird und jeder Deutsche ein gesundes Heim hat und alle deutschen Familien, insbesondere die kinderreichen, einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Wohn- und Arbeitsraum vorfinden.”
Das bedeutete, dass der Wohnungsmarkt erstmals reguliert wurde und die Menschen theoretisch ein Recht auf angemessenen Wohnraum hatten. In allen Gemeinden des Deutschen Reiches entstanden Wohnungsbaugesellschaften, die mit der Umsetzung und Durchsetzung der staatlichen Vorgaben begannen, die die Vergabe von Wohnungen, die Mietpreise, die Instandhaltung, die Rechte von Mietern und Vermietern sowie eine ganze Reihe anderer Vorschriften regeln sollten.
Diese neuen Vorschriften schränkten die Rechte privater Vermieter stark ein, die auf dem zuvor unregulierten Markt im Wesentlichen freie Hand hatten. Anfang der 1930er Jahre sollte sich dies jedoch alles ändern.
Baupolitik unter den Nazis
Trotz all ihrer Proklamation der Liebe zum deutschen Volk und ihres pseudo-esoterischen Hokuspokus kümmerten sich die Nazis in Wirklichkeit nur wenig um die Wohnungsbelange der Berliner Bürger.
Am 27. Juli 1935 wurde eine Verordnung über die Volkswohnung erlassen, die einen Fonds von 35 Millionen Mark zur Förderung des Baus der so genannten “Volkswohnung” eröffnete. Was sich nach einer starken Investition in die soziale Infrastruktur anhört, war in Wirklichkeit nur Augenwischerei.
Bei den Volkswohnungen handelte es sich nach der Definition des Erlasses um preiswerte Mietwohnungen, die in Bezug auf Wohnfläche und Ausstattung begrenzt waren. Die Regierung förderte den Bau von mehrstöckigen Gebäuden, obwohl dies ihrer Vorliebe für den Heimatschutzstil widersprach. Der Erlass sah auch vor, dass der Staat nur dann einen Kredit von 1000 Mark gewähren würde, wenn die Baukosten 3500 Mark nicht überstiegen. 1937 kam eine weitere Vorschrift hinzu, die für diese Art von Wohnungen eine feste Monatsmiete von 50 Mark festlegte – was die Baufirmen im Wesentlichen dazu zwang, billige, unbequeme Wohnungen zu bauen.


Diese Art von Gebäuden hatte in der Regel keine Balkone, da sie zu teuer waren, die Küchen und Bäder waren klein und beengt, und sie hatten selten eine Zentralheizung. Die Nazis genehmigten sogar den Bau von drei Wohnungen pro Stockwerk – etwas, das in der Weimarer Republik abgeschafft worden war, da es zu wirklich schrecklichen Wohnverhältnissen führte. Die neu errichteten Wohnungen waren nicht nur spärlicher ausgestattet als in der Weimarer Zeit, sie waren auch kleiner und billiger gebaut.
Durch den 1936 erlassenen Vierjahresplan wurden große Mengen an Baumaterialien und qualifiziertem Personal von den geplanten Wohnungsbauprojekten abgezogen, so dass die meisten geplanten Projekte zum Scheitern verurteilt waren oder ganz eingestellt wurden. Da die Bevölkerung Berlins ständig wuchs, stieg auch der Bedarf an neuen Wohnungen. Dennoch beschlossen die Nazis 1938, 50.000 Wohnungen abzureißen (und damit rund 150.000 Menschen zum Umzug zu zwingen) und ganze Friedhöfe zu verlegen, um Platz für ihr neues Germania-Projekt zu schaffen – und in diesem Fall speziell für die “Nord-Süd-Achse”.


Eine kleine Statistik am Rande: In den letzten 7 Jahren der Weimarer Republik baute die Regierung 170.000 Wohnungen in Berlin. Im Gegensatz dazu wurden in den 12 Jahren der Nazi-Herrschaft nur 102.000 Wohnungen gebaut.
Bau der Siedlung Grazer Damm
Während die Nazis den Abriss von Häusern in Schöneberg vorantrieben, um Platz für die neue Nord-Süd-Achse zu schaffen, planten sie, die Vertriebenen umzusiedeln. Zu diesem Zweck beauftragten die Nazis die Architekten Carl Cramer, Ernst Danneberg, Richard Pardon, Ludwig Spreitzer und Hugo Virchow mit der Planung und dem Bau einer neuen Wohnanlage in Schöneberg.
Obwohl fünf Architekten für den Grazer Damm an Bord waren, hatten sie nur wenig Einfluss auf das Projekt. Sie waren an die Volkswohnungsverordnung gebunden, die sie im Wesentlichen dazu zwang, billige und kleine Wohnungen ohne Zentralheizung, warmes Wasser oder Balkone zu errichten (ein Standard, der weit unter den Standards der Wohnbauprojekte der Weimarer Republik lag). Zweitens war dieses Projekt mit dem Germania-Projekt verknüpft, so dass sie direkt den Anweisungen von Albert Speer unterworfen waren, was mögliche Innovationen oder Änderungen weiter einschränkte.
Das gesamte Projekt war von nationalsozialistischer Propaganda durchdrungen, und man braucht sich nur den Namen der Straße anzusehen, in der das Wohnprojekt gebaut wurde: Grazer Damm. Nach der Fertigstellung der Hauptstraße wurde diese am 27. März 1939 zu Ehren des österreichischen Anschlusses, der fast genau ein Jahr zuvor stattgefunden hatte, auf den Namen Grazer Damm getauft.

Der große Platz mit der evangelischen Nathanaelkirche (erbaut 1903), der auch der Namensgeber für den genannten Platz war – Nathanaelplatz – wurde 1939 ebenfalls in Grazer Platz umbenannt. Erwähnenswert ist auch, dass die Nazis bei der Umbenennung des Nathanaelplatzes in Grazer Platz auch ein Mosaik mit dem Stadtnamen und dem Wappen anbrachten. Das Mosaik existiert noch heute und ist in relativ gutem Zustand.
Eine ganze Reihe neuer und bestehender Straßen in Berlin wurden von, für und nach den Nazis umbenannt – ein weiteres sehr prominentes Beispiel ist die Spanische Allee”. Bis 1939 hieß dieser Straßenabschnitt Wanseestraße”, wurde dann aber zu Ehren der Legion Condor, die aus dem spanischen Bürgerkrieg nach Deutschland zurückgekehrt war, in Spanische Allee” umbenannt. Viele Straßen wie diese wurden nach dem Krieg nie umbenannt – wahrscheinlich (das ist meine Vermutung), weil es niemanden wirklich interessierte und die Namen zu unschuldig klangen, um ihren Hintergrund jemals zu hinterfragen oder anzuzweifeln.


1940 war die Siedlung Grazer Damm fertiggestellt und hatte die zweifelhafte Ehre, das größte von den Nazis fertiggestellte Wohnbauprojekt zu sein. Der gesamte Komplex (oder eine Reihe von Gebäuden) war 1,3 Kilometer lang, bestand aus neun fünfstöckigen Gebäudeblöcken und umfasste über 2000 Wohnungen. Es war nicht so, dass die Nazis keine größeren Projekte geplant hätten – sie phantasierten über den Bau der “Oststadt” in Biesdorf, Marzahn und Hellersdorf, die über 445.000 Menschen beherbergen sollte -, aber sie hatten aufgrund der laufenden Kriegsanstrengungen einfach nicht die nötigen Materialien.
Betrachtet man das gesamte Projekt aus der Adlerperspektive, so fallen die ungewöhnlich großzügigen Innenhöfe auf. Selbst für Weimarer Verhältnisse war die Grünfläche, die den Bewohnern zur Verfügung gestellt wurde, ungewöhnlich groß, aber das lag nicht daran, dass die Nazis plötzlich einen Sinneswandel in Bezug auf ihre “Volkswohnungs”-Politik hatten – es war vielmehr das Ergebnis einer Baupolitik von 1938. Die Nazis wussten schon lange im Voraus, was die Zukunft bringen würde, und planten daher bereits im Voraus.

Ab 1938 mussten Neubauten einer “Luftschutzbestimmung” entsprechen – das bedeutete, dass diese Gebäudetypen absichtlich einen großen Zwischenraum zwischen den Gebäuden ließen, um mögliche “Schornsteineffekte” und Feuerstürme bei Luftangriffen (wie in Hamburg und Dresden am Ende des Krieges) zu vermeiden. Bei genauem Hinsehen kann man auch feststellen, dass die weniger repräsentativen Seiten der Wohnblöcke ebenfalls offen gelassen wurden, um Druckwellen Raum zum Entweichen zu geben.

Gut 120 Kilometer nördlich von Berlin, in Rechlin, begannen die Nazis sogar mit dem Bau einer Reihe von oberirdischen Bunkern (die wenig überraschend wie Gebäude aussahen), die den Spitznamen “die Weißen Häuser” trugen, um für die neue Hauptstadt Germania neue Waffentechnologien zu testen, aber auch um zu erproben, wie man widerstandsfähigere Strukturen gegen Luftangriffe bauen konnte.
NS-Ikonographie am Grazer Damm
Die Außenfassaden der Gebäude am Grazer Damm waren ursprünglich grau verputzt und hatten kleine, eng vergitterte, einheitliche Fenster. Abgesehen von minimalistischen Verzierungen an und über den Eingängen gab es praktisch keine Verzierungen an den Gebäuden. Manche sagen, dass dieses Aussehen dem Mangel an Materialien geschuldet war, aber es verlieh dem gesamten Projekt auch das für die damalige Zeit typische Aussehen – imposant und leicht bedrohlich.




Ein Teil der Monotonie wurde durch neoklassizistische Details aufgebrochen – jedes der Gebäude an den vier Ecken des Grazer Platzes hat einige neoklassizistische Torbögen, die den Gebäuden ein wenig “Leichtigkeit” verleihen. Tierskulpturen wurden auch strategisch an repräsentativen Eingängen entlang der Gebäude platziert, obwohl dies auch ein wenig ein Geheimnis zu sein scheint. Die repräsentativen Eingänge entlang des Grazer Platzes sind mit vier bzw. zwei Tierskulpturen ausgestattet. Die erste Gruppe besteht aus einem Bären, einem Puma, einem Esel und einem Wildschweinpaar, während die zweite Gruppe weiter unten in der Straße aus einem jungen Stier oder einer Kuh und einem Schweinepaar besteht.





Es ist nicht ganz klar, wer diese und die anderen Skulpturen am Grazer Damm geschaffen hat, aber einige von ihnen werden dem Bildhauer Karl Wenke (1911 – 1971) zugeschrieben – obwohl es so scheint, als hätte ihn zu seinen Lebzeiten niemand um eine Bestätigung gebeten. Karl Wenke leitete nach dem Krieg die Steinmetzwerkstatt des Berliner Senats und trug ab den 1950er Jahren mit verschiedenen Skulpturen zum Stadtbild Berlins bei.
Es ist auch nicht ganz klar, nach welcher Logik man gerade diese Tiere am Grazer Damm platziert hat – Pumas sind in Deutschland nicht wirklich heimisch. Vielleicht handelt es sich um einen Scherz oder eine Anspielung auf Graz, dessen Wappen einen “Panther” enthält – wenn auch einen mythologischen und nicht das eigentliche Tier. Fast alle Skulpturen hier scheinen entweder während des Krieges oder danach schwere Schäden erlitten zu haben und wurden anscheinend hastig repariert.


Weiter unten am Grazer Damm befinden sich zwei Portale, die weitaus leichter als aus der Zeit des Nationalsozialismus stammend identifiziert werden können – ihr eher düsteres und imposantes Design (wenn auch etwas verkleinert) war ein gängiges Merkmal im Dritten Reich. Der erste Eingangsbogen zeigt eine Reihe von Bären (aus rotem Sandstein gemeißelt), die wiederum Wenke zugeschrieben werden, und der zweite Bogen zeigt eine Reihe von Fohlen.



Im Gegensatz zu den anderen Skulpturen scheinen sie sich im Stil etwas zu unterscheiden, was die Vermutung nahelegt, dass sie von einem anderen Künstler geschaffen wurden. Man kann zwar nur spekulieren, warum diese Tiere ausgewählt wurden, aber es ist keine Überraschung, dass diese Art von Skulpturen aufgestellt wurden, da sie dem Gebiet ein “freundliches” Gesicht verliehen, aber auch gut zum Dogma des “Heimatschutzes” passten, der den Tierschutz als deutsche Tugend propagierte.



Apropos deutsche Tugenden – die 18 Reliefs an den beiden Hauptgebäuden südlich des Grazer Platzes sind kaum zu übersehen und stellen größtenteils Märchen der Brüder Grimm dar. In Richtung Süden beginnt der linke Block mit einer Darstellung des Heiligen Georg, der den Drachen erschlägt, gefolgt vom Wappen des Berliner Bezirks Schöneberg von 1920-2000.
Das dritte Relief zeigt eine Mutter und ein ziemlich kräftig aussehendes Kind. Da ich so weit vom mündlichen Kontext dieses Reliefs entfernt bin, ist meine beste Vermutung, dass dieses Relief wahrscheinlich die Geschichte von “Der Starke Hans” darstellt. Die vierte Fliese zeigt den Berliner Bären und die fünfte (wahrscheinlich eine der am leichtesten zu erkennenden Figuren) den Rattenfänger von Hameln.





Auf den Rattenfänger folgt eine Darstellung der Geschichte “Brüderchen und Schwesterchen“, und das siebte Relief zeigt eine ziemlich entschlossen wirkende Frau. Es ist schwer zu sagen, wen oder was das darstellen soll, aber auf der anderen Straßenseite gibt es eine fast identische, aber leicht veränderte Version, die sehr wohl Goldmarie und Pechmarie aus dem Märchen “Frau Holle” darstellen könnte. Die achte Fliese ist das Wappen des Berliner Bezirks Wilmersdorf von 1920-2000, und die 9. (seltsamerweise die einzige mit einem Titel) stammt aus dem Märchen “Der Wunschtisch, der Goldesel und der Knüppel im Sack”.




Das erste Relief scheint den Heiligen Christophorus darzustellen, den Schutzpatron der Athleten, Seefahrer, Fährleute und Reisenden. Ich habe das Gefühl, dass dieses Relief erst nach dem Krieg hinzugefügt wurde, da sein Stil nicht ganz zu den anderen passt. Das zweite Relief ist wiederum eine Darstellung des Wappens von Wilmersdorf, und das dritte Relief könnte Pechmarie aus der Geschichte “Frau Holle” darstellen.





Das vierte Relief zeigt die Bremer Stadtmusikanten und das fünfte den “Gestiefelten Kater”. Die sechste Fliese stellt die Geschichte von “Der Ranzen, der Hut und das Horn” dar, und die siebte zeigt wiederum ein Relief mit einer Mutter und einem Kind (was ich für die Geschichte oder den Straker Hans hielt). Das achte und neunte Relief stellen das Wappen von Schöneberg und den Berliner Bären dar.




Wenn Sie um die Ecke auf die weniger verzierte Seite des Gebäudes in die Kauschstraße gehen, werden Sie schnell feststellen, dass drei der Türen ebenfalls Reliefs über sich haben – allerdings zeigt nur eine von ihnen das Märchen “Die sieben Raben“. Interessanterweise ist dies die einzige andere Fliese, die mit dem Motiv des Heiligen Christophorus übereinstimmt.

Wenn Sie ein paar Schritte bis zur Tür Nummer fünf gehen, finden Sie dort eine ganz eindeutige Darstellung eines Mitglieds der Hitlerjugend. Auch wenn die Darstellung keine Abzeichen trägt, ist die Uniform ganz klar als solche zu erkennen.


Gleich nebenan über der Nummer 7 ist ein junges Mädchen abgebildet – nicht viel anders als die Frau auf dem Relief am Grazer Damm. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass sie den “Bund Deutscher Mädel” repräsentiert – das weibliche Pendant zur Hitlerjugend. Es war nicht ungewöhnlich, dass viele dieser Wohnungen zuerst an Mitglieder der NSDAP und anderer NS-Organisationen vergeben wurden (wie z. B. die Waldsiedlung in Krumme Lanke), so dass es einen logischen Zusammenhang zwischen den vorgesehenen Bewohnern und der äußeren Gestaltung geben könnte.


Die Reliefs entlang des Grazer Dammes werfen einige interessante Fragen auf. Es ist zwar klar, dass es eine bewusste Absicht war, Märchenfiguren auf den Gebäuden darzustellen (was durch das Vorhandensein eines Brunnens, der Schneewittchen und sieben Kinder anstelle von Zwergen darstellt, weiter unten auf der Straße noch verstärkt wird), aber ich frage mich, wie viele Reliefs es ursprünglich gab. Die Fliesen scheinen ungleichmäßig entlang der Türöffnungen verteilt zu sein, und mindestens zwei von ihnen scheinen aus der Nachkriegszeit zu stammen.
Dies lässt mich vermuten, dass einige der Reliefs entweder während des Krieges beschädigt oder nach dem Krieg entfernt wurden, da sie zu offensichtlich faschistische Symbole darstellten. Dies könnte erklären, warum die Reliefs der Hitlerjugend und des BDM bis heute unbehelligt überleben konnten. Um ganz offen zu sein, hätten diese Darstellungen im Ostsektor wahrscheinlich nicht überlebt, da die Sowjetische Besatzungszone und die spätere DDR bei der (zumindest architektonischen) Entnazifizierung etwas rigoroser waren. Wenn man sich anschaut, wie viele Adler aus der Nazizeit überlebt haben, kann man erahnen, wie viele davon in West-Berlin zu finden sind.


Ich habe keine Fotos aus der Zeit um oder nach dem Bau der Siedlung Grazer Damm auftreiben können, und auch Fotos nach 1945 scheinen sehr selten zu sein, so dass es schwierig ist, sich ein genaues Bild davon zu machen, welche Art von Reliefs die Gebäude einst zierten. Es gibt jedoch ein interessantes Foto, das die 2. US-Panzerdivision beim Vorbeimarsch an den zerbombten Gebäuden auf dem Grazer Damm direkt am Grazer Platz zeigt (Sie müssen diesen Link anklicken, da ich keine 150 € dafür zahle, ihn hier einzubetten). Für Neugierige – wenn Sie auf diesen Google-Maps-Link klicken, erhalten Sie eine sehr ähnliche Ansicht dessen, wie der Platz heute aussieht.
Der Grazer Damm nach dem Krieg
Drei der neun Wohnblocks wurden während des Krieges vollständig zerstört, andere wurden schwer beschädigt. Die Gebäude, die gerettet werden konnten, wurden wieder aufgebaut und in ihrem ursprünglichen Stil restauriert – zu diesem Zeitpunkt hatten die Menschen größere Probleme und konnten sich nicht weniger für den architektonischen Stil der Gebäude interessieren.

Die über 1500 Wohnungen gehörten der Stadt Berlin, bis sie 2004 an die GSW (Deutsche Wohnen) verkauft wurden, die sie dann an Cerberus/Goldman Sachs weiterverkaufte, die sie wiederum an die Vivacon AG veräußerte – alles im selben Jahr, wie ich hinzufügen möchte. Die Mehrheit der Bewohner waren entweder einkommensschwache Haushalte, die befürchteten, aus ihren Wohnungen verdrängt zu werden – eine nicht unbegründete Angst.
Die Vivacon AG begann sofort mit Renovierungsarbeiten und baute an einige der Wohnungen Balkone an, eine übliche Taktik, um den Wert und das Mietpotenzial von Immobilien billig zu steigern. Merkwürdigerweise wurden mehrere Modernisierungen abgelehnt, als der Staat noch Eigentümer der Immobilie war, und zwar unter Berufung auf strenge Denkmalschutzbestimmungen. Die Gebäude waren bereits einige Jahre zuvor unter Denkmalschutz gestellt worden, was die Immobilienunternehmen aber offenbar nicht davon abgehalten hat, bauliche Veränderungen vorzunehmen.


Seitdem hat die Siedlung Grazer Damm noch ein paar Mal den Besitzer gewechselt, und die finanziellen Probleme der Bewohner haben sich noch vergrößert. Alles in allem also ein eher typisches Ergebnis für Berlin.
Da die Gebäude unter Denkmalschutz stehen, kann man davon ausgehen, dass die Reliefs, Märchen und die Hitlerjugend als unbequeme, aber wichtige historische Erinnerung sichtbar bleiben werden.
Der Grazer Damm heute
Der Grazer Damm ist ein interessantes Thema für alle, die sich für die Architektur des Dritten Reiches interessieren, da es sich um das größte fertiggestellte zivile Wohnbauprojekt der Nazis handelt. Selbst aus der Sicht eines Laien gibt es interessante Details zu entdecken und Vergleiche mit größeren und prominenteren architektonischen Werken der Epoche anzustellen. Wenn man in der Gegend ist, lohnt es sich, den Ausflug mit einem Besuch des (nicht ganz so nahen, aber nicht furchtbar weit entfernten) Friedhofs Steglitz mit seinem prächtigen Backstein-Wasserturm zu verbinden. Für Interessierte – ich habe unten einen kurzen Twitter-Thread mit einigen Details verlinkt:
Grazer Damm | Grazer Platz
12157 Berlin